· 

Der Fremde

 Mit einem aufgebrachten Stöhnen beschleunigte Susanne ihre Schritte. Sie hasste es, von Männern angebaggert zu werden. Ihre High Heels hinterließen ein lautes Klick-Klack, welches sich in den engen Straßen Santanyís an den Häuserwänden brach.
Der Fremde folgte ihr nicht. Ein Teil ihres Innern bedauerte das. Offen zugeben würde sie das natürlich nie.
Während sie in die Carrer des Sol abbog, kamen ihr die Bilder des Abends zurück in den Sinn. Die Bar de grutas war brechend voll gewesen. Die Gruppe White Club hatte eine Livevorstellung gegeben. Seitlich der Bühne standen einige kleine Tische, ausgelegt für Pärchen oder Einzelpersonen. Dies war ihr Bereich. 
Der Mann an Tisch 5 fiel ihr sofort auf. Er trug einen sonderbaren Schlapphut, hatte ein Netbook auf dem Tisch aufgebaut und hieb in die Tasten. Wegen des gedimmten Lichts konnte sie anfangs nur seine Silhouette erkennen. Er hatte sich eine Tapasplatte und eine Flasche Macia Batle bestellt.
Die vielen Gäste ließen Susanne keine Zeit zum Überlegen. Kellnerin war ein harter Job. Erst ab 24:00 Uhr wurde es ruhiger. Die Liveband wurde durch Musik aus den Lautsprecherboxen ersetzt, die Bar leerte sich.
»Señor, kann ich Ihnen noch etwas bringen?«
Der Mann mit Schlapphut sah sie eindringlich an. »Trinken Sie ein Glas Wein mit mir?«
Susanne hatte die aufschießende Röte in ihrem Gesicht bemerkt. Was sollte das werden?
»Ich bin nur Kellnerin hier. Haben Sie noch einen Wunsch?«
»Ja, sicher habe ich einen Wunsch! Bringen Sie noch eine Flasche Macia Batle, ein weiteres Glas, und setzen Sie sich bitte mit an den Tisch!«
Die Stimme des Fremden duldete keinen Widerspruch. Er war nicht unfreundlich, doch lag eine außergewöhnliche Dringlichkeit in seiner Einladung. 
»Ich sehe, was möglich ist.« Susanne war hinter die Theke verschwunden. Sicher, es gab nicht mehr viel zu tun, ihre Kollegen konnten einspringen. Zudem meldete sich ihr Magen mit einem lautstarken Grummeln. Sie hatte seit Mittag nichts gegessen! 
Normalerweise verschlang sie um diese Uhrzeit hastig in der Küche einige Tapas. In ihr reifte der Entschluss, die Einladung anzunehmen.
»Sie bezahlen mein Essen, dann setze ich mich zu Ihnen. Ist das okay für Sie?« Aufgeregt stand sie vor dem Fremden.
»Das geht in Ordnung. Ich würde auch noch ein paar Knabbereien nehmen.«
Susanne hatte ihren Kollegen beauftragt, das Gewünschte zu servieren. Sie selbst zog sich schnell um. Statt des schwarzen Kellnerkleides zog sie ihr weinrotes Minikleid mit den weißen Punkten an, schlüpfte in ihre High Heels und zog das Band aus ihren hochgesteckten Haaren, so dass die schwarze Lockenpracht weit über ihren Rücken herunterfiel.
»Da bin ich.«
Der Mann hatte sich erhoben und schob ihr den Stuhl zurecht. Susanne kam sich vor wie eine Prinzessin. 
»Sie sind Reporter?«, hatte sie mit dem Kopf auf das Netbook deutend gefragt.
»Nein, nein. Ich schreibe Romane, Novellen und so was.« Verlegen klappte der Mann den Deckel seines Computers zu.
»Sind Sie Tourist?« Susanne hatte wie selbstverständlich das Einschenken übernommen. Schließlich war sie die Kellnerin!
»Ja und nein.«
Der Fremde hatte große, braune Augen, die sie milde ansahen. Susanne hatte bemerkt, dass seine Hände stark zitterten.
»Sie möchten nicht darüber sprechen?« Jeden Tag mit Menschen zusammen zu sein hatte ihren Blick geschärft. Sie biss in eines der leckeren Baguette. »Danke jedenfalls für die Einladung. Aber versprechen Sie sich nichts davon! Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Ist das klar?« Bei dieser Lüge war sich nicht mal rot geworden. 
Warum trug der sonderbare Fremde einen Schlapphut in der Bar? Es war warm hier! Obwohl – Susanne gestand sich heimlich ein, dass er dadurch eine spezielle Ausstrahlung bekam. Ungewöhnlich. Besonders. Schriftsteller eben.
»Und der Storch bringt die Kinder!«, meinte der Mann lächelnd. 
Woher wusste er, dass sie gelogen hatte?

Susanne wühlte in ihrer Handtasche. Vor ihr die grün gestrichene Haustüre, suchte sie ihren Schlüssel. Verdammt! Es war so dunkel! Und es klapperte nicht! Verzweifelt zog sie ihr Handy hervor und schaltete die Taschenlampe ein. Irgendwo musste der Schlüsselbund mit dem großen Ball am Ring doch stecken! Es nutzte nichts. Sie hatte ihn in ihrer Kellneruniform vergessen! 
Vor sich hin fluchend, trat sie den Rückweg zur Bar an. Wenn sie Glück hatte, war der Chef noch da. Wieder schallte ihr Tritt in den hohen Absatzschuhen durch die Nacht, brach sich an den Häuserwänden. Sie war allein.
Wirklich?
Verstohlen drehte sie sich um. Schwärze, durchbrochen von dem gelblichen Licht vereinzelter Straßenlaternen. Stille. Sie lief schneller. Stöhnte erneut. So unangenehm war der Abend mit David nicht gewesen. So hieß der Schlapphut-Mann. Sie hatten die Flasche Wein geleert, sich hauptsächlich über Kunst unterhalten. Nichts Persönliches. Susanne malte in ihrer Freizeit, da gab es genug Gesprächsstoff. Sie hatte nur eines gehasst: nicht selbst die Initiative ergriffen zu haben. Sie war ungern die Passive. 
Sie bog um die Ecke, die Bar de grutas tauchte auf. Diffuses Licht hinter den Scheiben ließen sie aufatmen. Doch bevor sie die Tür mit den Klingelknöpfen erreichte, trat ihr ein schwarzer Schatten entgegen. 
»Señora Susanne, vermissen Sie etwas?«
Fast wäre sie mit dem Schlapphut-Mann zusammengestoßen. 
Susanne roch den Wein, den er mit seinem heißen Atem ausstieß. Er hatte die Laptoptasche umhängen, die spärliche Straßenbeleuchtung zeigte ihr einen lächelnden Mund und strahlend weiße Augen.
Nein. Sie vermisste nichts mehr! Was sie benötigte, stand vor ihr! Während im Hintergrund die Lichter in der Bar verloschen, trat sie näher auf den Fremden zu. »Habe mich ausgesperrt. Muss wohl auf der Straße schlafen.«
»Musst du nicht!«
»Nein?«, hauchte die Kellnerin und ihre Arme entzogen sich ihrer Kontrolle. Sie zogen den Mann heran, pressten ihn an ihren Körper. 
Während ihre Lippen sich ineinander versenkten, glitt Susannes Hand nach unten, blieb an der gewölbten Tasche Davids hängen. Instinktiv griff sie hinein und erfühlte die Umrisse eines kleinen Balls. Und die harten Kanten von Metallschlüsseln.
Schnell zog sie die Hand zurück. Und verstand sich selbst nicht mehr. Es war doch so schön, manipuliert zu werden. 
»Wohnst du weit weg?«, flüsterte sie.

 

 

©Michael Kalters

Kommentare: 0