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Kein Ausweg?

 

Kein Entkommen! Wieder einmal. Bekannt und jedes Mal befremdlicher. Vom Licht, welches nie hell war für mich, ins Dunkel, das schwärzer nicht sein konnte. Hineingestoßen als Abschaum, gefallen und verschlossen in die Finsternis eines qualvollen Seins.
Ich atme heftig, die Augen schmerzen vom Salzwasser, das mir von der Stirn über die Brauen rinnt. Zuwenig Platz in der Brust! Kein Raum dort für ein pulsierendes Herz! Das Stechen im Brustkorb leitet eine Kaskade von Höllenqualen ein. Die Därme krampfen sich zusammen, im linken Ohr scheint sich eine Oboe auszutoben, es quietscht und pfeift.
Vier – Sieben – Fünf! Ich versuche, der Dunkelheit mit der kürzlich erlernten Atemübung zu entkommen.
Vier Sekunden lang einatmen.
Sieben Sekunden Luft anhalten.
Fünf Sekunden lang ausatmen.
Mein Hypothalamus sträubt sich, beruhigende Hormone auszuschütten. Um mich herum nur Finsternis. Es ist Vormittag, die Sonne strahlt ihr heuchelndes Gelb auf glückliche Menschen. Verlogenes Glück und boshafte Wärme! Nichts davon dringt zu mir hindurch. Alleine, abgeschirmt, getrennt durch unüberwindliche Mauern will ich nur Eines: sterben!
Mit aufgerissenen Augen sitze ich da, spüre weder das warme Holz des Baumstumpfes unter mir, noch vernehme ich das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Kiefern. Möglicherweise hätte es mich beruhigt. Der Oboe in meinem linken Ohr gesellt sich stattdessen das Knarren eines verrosteten Wasserhahnes im rechten Ohr dazu. Chaos! Mein Lachen klingt schrill und entsetzlich einsam.
Ich sehe weiterhin nichts. Wegen der Dunkelheit um mich herum kann ich mich nicht ablenken, sondern muss mich zwangsläufig auf meine Probleme konzentrieren.
Vier Sekunden lang einatmen.
Sieben Sekunden Luft anhalten.
Fünf Sekunden lang ausatmen.
Das Zählen fällt mir schwer. Und ist sinnlos. Da ich sowieso sterben will. Warum also atmen?
Der Morgen hatte unbedeutend und gewöhnlich begonnen. Mit verstopfter Nase und einem bitteren Geschmack im Mund hatte ich das Handy zum Schweigen gebracht. Fünf Minuten später: schon wieder Tom Dooleys ’Hang down your head’!
Ächzend hatte ich die Helligkeit verflucht, mit der sich der neue Tag Zutritt ins Schlafzimmer verschaffte. Wirre Traumreste und das Gefühl, komplett versagt zu haben, begrüßten mich. Soweit, so gut.
   Rasieren, Zähneputzen, Zurechtmachen für die Arbeit. Medikamente nehmen, Wasser trinken, wieder Toilette. Brote schmieren, umziehen, Haus verlassen. Ich funktionierte. Triumphierte innerlich. Weil ich es draufhatte!
Ins Auto setzen, das Büro mit den Kollegen würde mich ablenken. Aufmuntern. Stressen. Lebendig erhalten.
Als es passiert.
Ich fahre rechts in einen Feldweg, um den Anruf entgegenzunehmen. Einer Bekannten geht es schlecht. Freund weg. Warum …? Nichts falsch gemacht. Ob er wiederkommt? Koffer gepackt? Mich sehen? Heute Abend in der ’Roten Nase’ ein Glas Wein trinken und aussprechen? Aufgelegt.
Da stehe ich. Froh, aus dem Haus gekommen zu sein, im Wagen zu sitzen, zur Arbeit zu fahren. Jetzt gestoppt. Meine beste Freundin, sie, die ich unendlich geliebt hatte. Nein – noch liebte! Trinken mit ihr? Trösten?
Ab da wird es immer dunkler um mich. Ich steige aus und laufe ein Stück. Als ich eingeschlossen werde. Aussichtslos. Wände ewiger Traurigkeit zerquetschen mich.
Ich kenne mich. Ein falsches Wort nur, eine Geste, ein Geruch – ein Depressiver ist eben zu nichts zu gebrauchen. Abhängig von Chemie und niemals stabil. Zu jeder Zeit, an jedem Ort kann das passieren. Abgleiten und verloren gehen, im hellsten Licht eingekapselt, weggeschlossen und vernichtet.
Vier Sekunden lang einatmen.
Sieben Sekunden Luft anhalten.
Fünf Sekunden lang ausatmen.
’Rote Nase’? Zusammen etwas trinken? Trösten?
Ich erhebe mich weinend. Zum Glück sieht es niemand. Ich werde da sein. Der Liebe meines Lebens Mut zusprechen.
Dann werde ich nach Hause gehen.

Und sterben.

Tausend Tode in der Finsternis.
 

 

©Michael Kalters

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