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Der Richter

Eine morgendliche Dusche gehörte normalerweise nicht zu  meinen Gewohnheiten. Ich wollte den Tag verschlafen und mit schlechter Laune beginnen – wie jeden Tag dieses erbärmlichen Daseins.
»Es war nicht alles umsonst, oder?«, murmelte ich vor mich hin, während ich abgetrocknet und nackt vor dem Toilettenspiegel stand. Der reichte zum Glück nur bis in Brusthöhe. So blieb mir der Anblick darunter erspart. Andere Männer in meinem Alter hatten ebenfalls Bauch. Trotzdem demütigte mich die unschöne Ausbuchtung.
Ich angelte die Rasiercreme aus der Schublade und drückte mir einen Zentimeter davon auf die rechte Wange. Da stockte ich. Sah verschleiert auf ein unendlich ausdrucksloses Gesicht. Die Züge darin erkannte ich kaum.
Instinktiv wischte ich mit der freien Hand das Wasser aus den Augen. Die lange Hakennase und die abstehenden Ohren verliehen meinem Gesicht Charakter. So sagte man es mir nach. Diejenigen, die nicht ahnten, wie es in mir aussah. Haare, kurz geschnitten und weiß, wuchsen mir trotz der erst 52 Jahre nur noch am Hinterkopf. Zu viel Unrecht hatte ich bisher billigen müssen. Sicher – es gab Momente, in denen ich zufrieden mit meinen Urteilen war.
Es tat mir gut, die verächtlich heruntergezogenen Mundwinkel zu betrachten. Denn meist siegte doch nur die kalte Gerechtigkeit über Barmherzigkeit. Vergebung und Emotion hatten vor Gericht nichts zu suchen. Allein die Robe bewahrte mich vor dem Wahnsinn. In diesem Moment allerdings stand ich nackt vor dem Spiegel. Ohne den Schutzschild aus schwarzer Seide. Und brachte es nicht fertig, mich einzuschäumen und zu rasieren. Eine junge Ärztin würde ich heute ins Gefängnis schicken.
Ärztin? Lächerlich! Arzt ist doch ein Beruf. Vor Gericht stand eine junge, alleinerziehende Mutter. Eine Frau, deren Leben ich zerstören würde. Grüne Augen fraßen sich aus dem Spiegel in mein Innerstes. Die Mörderin hatte ebenfalls grüne Augen. Ihre glühten, meine klagten. Sterbehilfe für einen unheilbar Kranken. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, sodass ich bis zu den Lenden im Spiegel heruntersah. Welche Krankheit schlummerte in mir? Diese Wölbung – war es nur Fett, oder hatte sich bereits ein tödliches Karzinom dort angesiedelt? Wäre ich irgendwann einmal auf eine barmherzige Ärztin angewiesen, die mir unnötiges Leiden abnahm?
Ich wischte mir den Rasierschaum vom Gesicht. Nein! Ich würde protestieren! Das Urteil war ungerecht. Jeder sollte es sehen, wie mich das belastete. Ich würde heute das erste Mal  unrasiert hinter dem Podium sitzen. Und die grau melierten Bartstoppeln würden meine Kollegen und das Publikum befremden. Genauso wie das Urteil, das ich fällen würde. Die Dame vom Jugendamt, die sich angemeldet hatte, das Kind der Angeklagten unterzubringen, würde unverrichteter Dinge heimkehren.
Meine Lippen öffneten sich zu einem zufriedenen Lächeln, gelbliche Zähne entblößend.

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